Auf See - Theresia Enzensberger

Eine auf der Ostsee treibende Seestatt, ein komplett autarker kleiner Kosmos ist seit Jahren das Zuhause der 17jährigen Yada. Von ihrem genialen Vater konzipiert, als das Leben auf dem Festland nicht mehr möglich schien und die Welt im Chaos versank, ist sie der sicherste Ort überhaupt - wenngleich der Lack langsam abblättert, die meisten Menschen bereits wieder fort sind. Mit dem Wissen um ihre Privilegien wächst die junge Frau heran, absolviert brav ihr tägliches Programm an Unterrichtseinheiten und Therapiesitzungen, nimmt ihre Medikamente, um die psychische Erkrankung ihrer verstorbenen Mutter, die wie ein Damoklesschwert über ihr schwebt, in Schach zu halten. Als Yadas Vater von einer seiner zahlreichen Forschungsreisen eine Frau mitbringt und Yada Gefühle für diese entwickelt, gerät ihr ganzes Weltbild ins Wanken, erhebliche Zweifel an bisherigen Gewissheiten keimen auf und sie beginnt, sich aus dem Bann des Vaters zu lösen, ihre eigene, kleine Welt zu erkämpfen.

Der Coming of Age-Geschichte um Yada stellt Theresia Enzensberger historische Archiveinträge entgegen, Passagen, die ich anfänglich schwer einordnen konnte, sich im weiteren Verlauf aber plausibel einfügen und mir besonders viel Spaß beim Lesen gemacht haben. Was hab ich sie gegoogelt, diese Ereignisse - und ihre größenwahnsinnigen Protagonisten gleich mit! „Auf See“ fesselt und fordert, ist wahnsinnig eloquent erzählt und schon deshalb lesenswert. Insgesamt hätte der Roman für mich aber gerne noch mehr in die Tiefe gehen, ein bisschen mehr Ruhe innehaben dürfen. Manch ein Faden wird angerissen und verliert sich dann wieder, auch die Figurenzeichnung bleibt bei der Dichte an Informationen und dem hohen Erzähltempo leider ein wenig auf der Strecke, was ich sehr bedauert habe. Ein Roman, der mich weniger im Herzen, als auf der intellektuellen Ebene erreicht hat, aus dem ich besonders ein Gefühl mitnehme, das ich nur zu gut kenne, das mich dieser Tage häufig überfällt, mir direkt unter der Haut sitzt. Wo befinden wir uns gerade eigentlich? In einer Krise, im Kollaps, im Auge des Orkans oder knapp davor? Ist die Dystopie von gestern die Realität von morgen? Oder gar von heute?

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022.

„Nicholas hatte schon immer gewusst, dass das alles nicht lange gut gehen konnte. Seit seiner Kindheit hatte ihn die dräuende Gewissheit begleitet, dass es nur eines kleinen Stoßes, eines Zitterns bedurfte, um die Welt aus den Angeln zu heben.“ S. 179

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