Solange wir schwimmen - Julie Otsuka

Solange wir schwimmen ist es nur ein hauchfeiner Riss. Eine zarte, im bewegten Wasser fast unsichtbare Linie am Ende von Bahn vier, eine winzige Anomalie in der Atmosphäre. Solange wir schwimmen wissen wir genau, was zu tun ist: eintauchen, kraftvoll das Wasser durchstoßen, auftauchen, Luft holen. Solange wir schwimmen ist nebensächlich, wer wir da draußen sind, im echten Leben. Solange wir schwimmen ist es nur ein verirrter Cremetiegel im Gefrierschrank, ein plötzlich abwesend werdender Blick, ein irritierender Moment, bevor deine Stimme zu ihr durchdringt und die vertrauten Züge annimmt. Solange wir schwimmen ist Alice noch Alice, ist Alice deine Mutter und noch da, kannst du sie noch ein wenig festhalten.

Ich habe vor zehn Jahren Julie Otsukas „Wovon wir träumten“ gelesen und dieses eindrückliche, originelle Buch über die Sehnsüchte, Hoffnungen und den Schmerz junger Japanerinnen in den USA sehr geliebt und nie vergessen. In ihrem neuen Roman widmet die Autorin sich erneut einem sehr persönlichen, wenn auch gegenwärtigerem Thema, dem der Demenz, des leisen Verschwindens eines Menschen. Wie schon damals eröffnet die Autorin einen vielstimmigen Kanon mit ihrer ungewöhnlichen Wahl der Wir-Erzählperspektive sowie dem Stilmittel der Repetition, der steten Wiederholung. Die lyrische Sprache, gleichsam monoton wie dringlich, treibt den Plot schnell voran, die kurzen Sätze geben einen meditativen Rhythmus vor. Ein sehr berührendes, besonderes Leseerlebnis und eine große Empfehlung von mir. Großartig übersetzt von Katja Scholtz. 

„Und nachdem sie ihre letzte Bahn geschwommen ist, geht sie in der Umkleide lange und heiß duschen, zieht sich an, steigt die Treppen hinauf und tritt, blinzelnd und staunend, hinaus in die gleißend helle Welt oben.“ S. 69

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