Die Gouvernanten - Anne Serre

Mir ist, als träumte ich. Als wandelte ich eine lange, von Dickicht gesäumte Allee hinunter, einem großen Haus entgegen. Ein raues Lachen erschallt. Dort, im weitläufigen Garten, sehe ich es rot aufblitzen, einmal hier, einmal da, und schon ist es wieder verschwunden. Ich reibe mir die Augen, schaue durch halb geschlossene Lider genauer hin. Doch, da galoppieren sie durchs Unterholz, das lange Haar wehend, die strengen Netze zu Boden geworfen, die roten Röcke wild umher schwingend. Sie sind es, die Gouvernanten, Inès, Laura und Éléonore, Herrscherinnen ihrer kleinen, abgeschiedenen Welt hinter den goldenen Toren. Diese verlassen sie niemals, doch innerhalb der Mauern regieren sie über alles, nehmen sich, was immer ihnen beliebt, koste es, was es wolle. Hier gelten ihre Regeln. Und auf die Jungen passen sie natürlich auf, am Tage! Welche Jungen, fragst du? Na, die von Monsieur und Madame Austeur, der Familie, die hier lebt. Klein und groß jagen sie den Reifen hinterher, geraten ganz aus der Puste und kehren dann zu ihren Gouvernanten zurück, den Blick vertrauensvoll auf diese gerichtet, bei den Älteren sehe ich eine Ahnung ersten Verlangens darin, ein sehnsüchtiges Brennen. Und wer kann sie ihnen verübeln, diese totale Verzückung? „Hier nahte das Leben (…) und mit ihnen eine Fülle von Erinnerungen und Wünschen, eine Menge von Unbekannten, die an ihren Träumen hingen, ihre zukünftigen Kinder, ihre künftigen Liebsten, die endlose Kohorte ihrer Vorfahren, die Bücher, die sie gelesen, die Blumen, deren Duft sie eingesogen hatten.“ (S. 32)

Ungläubig und ein bisschen sehnsüchtig beobachte ich das unbändige Treiben jener jungen Frauen, ihre reine Freude an der Unvernunft, ihr hungriges Verlangen, das im starken Kontrast zu ihrer bescheidenen Aufgabe, ihrer sittsamen Rolle in der Gesellschaft steht. Gleich dem greisen Herrn mit dem Fernrohr bin ich eine neugierige Voyeurin, kann mich dem, was sich vor meinen Augen abspielt, dieser surrealen Szenerie nicht entziehen. Ein so kraftvolles wie zartes, fiebriges Märchen voll Poesie und Phantasie, ein sinnliches Spiel mit den verschwommenen Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, das mich bezaubert und betört hat.

Anne Serres eleganter Roman ist eine wirklich aufregende Neuentdeckung aus dem Berenberg Verlag. Die Originalausgabe „Les Gouvernantes“ erschien bereits 1992 in Frankreich, 2021 folgte eine leicht veränderte Ausgabe, der diese hervorragende Übersetzung von Patricia Klobusiczky folgt. 

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